Philharmonie Schwäbisch Gmünd e.V.

Konzertarchiv

Reinecke, Gade
06. Februar 2021



  • Dieses Konzert entfiel aufgrund der Corona-Pandemiebeschränkungen.

    Carl Reinecke (1824–1910)
    Zwölf Tonbilder für Streichorchester (1887)

    Niels Wilhelm Gade (1817–1890)
    Symphonie Nr. 8 in h–Moll op. 47 (komponiert zwischen 1869-1871)

    Leitung: Knud Jansen

Musikmetropole Leipzig, Mendelssohn und das Leipziger Gewandhausorchester – Schlüssel zum lebenslangen Erfolg zweier heute fast vergessener Musiker

Niels W. Gade und Carl Reinecke gehören zu einer ganzen Reihe von Komponisten des 19. Jahrhunderts, die nur mit vereinzelten Werken oder überhaupt nicht mehr im heutigen Konzertleben vertreten sind. Neben den Größen der Romantik wie Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms, Wagner, Liszt oder Bruckner gerieten sie gegen Ende ihres Jahrhunderts gänzlich ins Abseits, und erst seit einigen Jahren entdeckt man sie als bedeutende Musiker ihrer Zeit wieder – und ihre Kompositionen als nicht zu unterschätzende Werke der Musikgeschichte. An dieser Stelle wären auch Namen wie etwa Max Bruch, Joseph Rheinberger und Joachim Raff zu nennen, die in den letzten Jahren auch auf Konzertprogrammen der Philharmonie Gmünd standen. Diese Reihe eher unbekannter Komponisten setzt sich nun mit Reinecke und Gade fort.

Nicht nur zufällig gibt es Berührungspunkte zwischen Gade und dem um sechs Jahre jüngeren Reinecke. Zufall ist, dass Gade, geboren 1817 in Kopenhagen, und Reinecke, geboren 1824 in Altona (heute Hamburg), eine zeitlang Landsleute waren, denn von 1640 bis 1864 hatte Altona unter dänischer Verwaltung gestanden. Nach dem deutsch-dänischen Krieg von 1848 bis 1851 klärte sich der Status Schleswig-Holsteins als von Dänemark unabhängigem Herzogtum, und seitdem gilt Reinecke als deutscher Komponist.

Weniger zufällig ist, dass sich Gade und Reinecke im Frühling 1843 in Kopenhagen am Hof ihres Landesherrn, des dänischen Königs Christian VIII., kennen gelernt hatten. Der König war beeindruckt vom musikalischen Potential der ambitionierten jungen Musiker, und mit einem Stipendium ermöglichte er ihnen den Aufenthalt in der damaligen Musikmetropole Leipzig.

Leipzig hatte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer wohlhabenden Handelsstadt entwickelt, in der bürgerliches Musikleben aufgeblüht war und im 19. Jahrhundert nun seinen Höhepunkt erreichte. Nicht nur die Präsenz herausragender Musikerpersönlichkeiten, Institutionen wie das Gewandhaus mit Mendelssohn als Kapellmeister, die Professionalität des Orchesters, das von Mendelssohn gegründete Konservatorium und literarische oder musikalische Salons bildeten die Grundlage bürgerlicher Musikkultur; dazu kam die Konzentration von Musikverlagen. Im Verlag Breitkopf & Härtel hatte man die ersten Gesamtausgaben der Werke Mozarts und Haydns in Angriff genommen und diesbezüglich auch Kontakte zu Beethoven hergestellt. Maßgeblich bei der europaweiten Verbreitung der Verlagsprodukte war zudem die erste dauerhaft erscheinende Musikzeitung, die „Allgemeine musikalische Zeitung“. Ihr Anspruch war, „… die Erzeugnisse einer solchen Zeit unter den Kennern und Liebhabern der Musik zu verbreiten, für ihr Verständnis und ihre Würdigung aufklärend zu wirken, das Publicum für sie und an ihnen zu bilden“. (AmZ 50, 1848)


Reinecke, der schon als Zwölfjähriger erfolgreich als Pianist aufgetreten war, konnte nun, mit dem Stipendium des Königs im Rücken, seinen strengen Vater davon überzeugen, dass Leipzig der richtige Ort für ein Klavier- und Kompositionsstudium war. Bereits im ersten seiner drei Leipziger Studienjahre am Konservatorium, von 1843 bis 1846, debütierte Reinecke als Pianist im Gewandhaus mit einem Werk für Klavier und Orchester von Mendelssohn. Und dieser selbst verhalf dem jungen Pianisten zu weiteren öffentlichen Auftritten. Auch in Gades Karriere spielten Leipzig und Mendelssohn eine Schlüsselrolle. Auf Betreiben des Leipziger Musikverlages Breitkopf & Härtel brachte Mendelssohn als Kapellmeister des Gewandhausorchesters die Erste Symphonie des 26-jährigen Gade 1843 zur Aufführung. 1844/45 wurde Gade selbst die Leitung des Ensembles übertragen, die er im folgenden Winter mit Mendelssohn teilte. Nach dessen frühem Tod 1847, blieb Gade der alleinige Dirigent des Orchesters, musste aber schon nach einem Jahr, nach Ausbruch des dänisch-deutschen Krieges Leipzig verlassen.

Der Weg Reineckes führte nach Abschluss seines Studiums 1846 an die unterschiedlichsten Orte Europas, wo er als exzellenter Pianist, als Dirigent, Komponist und Klavierpädagoge tätig war. Das von ihm begründete Reinecke-Quartett, in dem er als Bratscher auftrat, wie auch seine zahlreichen Schriften weisen ihn als vielseitigen Musiker aus. Wie oft sich Reinecke und Gade im Laufe der gemeinsamen drei Leipziger Jahre getroffen haben, ist nicht ausreichend dokumentiert; sicher aber ist, dass sie teilweise in denselben Kreisen verkehrten und beide auch die Bekanntschaft mit Persönlichkeiten des dortigen Musiklebens machten, insbesondere mit Clara und Robert Schumann.

In den 50-er Jahren scheint es keinen Kontakt zwischen Gade und Reinecke gegeben zu haben, erst zehn Jahre später berührten sich ihre Wege wieder. Nachdem Gades Nachfolger in Leipzig als Hofkapellmeister nach Dresden berufen worden war, trug man Gade die Stelle des Kapellmeisters am Gewandhaus an. Doch Gade war inzwischen Musikdirektor des Kopenhagener Musikvereins und wollte dort werden, was Mendelssohn für Leipzig gewesen war. Er, wie auch der andere Kandidat, Ferdinand Hiller, lehnte ab. Der Ruf erging daraufhin an Reinecke, der nun Kapellmeister des berühmten Ensembles wurde, und während der folgenden 35 Jahre auch blieb – so lange wie vor und nach ihm keiner. Nun waren er und Gade sozusagen Kollegen. In einem regen Briefwechsel während der folgenden Jahre ging es hauptsächlich um Musiker und um Musikwerke, über die sie sich austauschten oder die sie einander empfahlen. Einige Briefe belegen, dass es auch Kontakte auf privater Ebene gab. Der letzte Brief Reineckes an Gade stammt vom April 1890, Gade starb im selben Jahr.

Verbunden hatte Gade und Reinecke auch eine zu ihrer Zeit bereits als konservativ geltende musikästhetische Einstellung. die sich insbesondere gegen Entwicklungen in der „Neudeutschen Schule“ richtete. Vorbildhaft für beide war das klassisch-romantische Ideal einer Musik, die ohne Beimischung anderer Künste (wie der Poesie) auskommt. Mithin orientierte sich ihr Kompositionsstil an Werken von Mendelssohn und Schumann, wenn auch die Eigenständigkeit ihrer Werke nicht in Abrede gestellt werden soll.

Die Texte wurden von Ingeborg Havran verfasst.

Komponisten und Werkbeschreibungen



  • Carl Reinecke (1824–1910)
    Zwölf Tonbilder für Streichorchester (1887)


    Als Komponist war Carl Reinecke mit 288 Werken äußerst produktiv, und das in fast allen Gattungen. Am erfolgreichsten war er mit seinen Klavierwerken und vor allem mit den Märchensingspielen und Kinderliedern; allein neun Märchen hat Reinecke vertont. Damit kam er der großen Nachfrage im weit verbreiteten bürgerlich-häuslichen Musikleben entgegen – Märchen, Mythen und Sagen waren den Romantikern ohnehin Ausdruck idealer Vergangenheit, Kindheit galt ihnen als verlorenes Paradies. Für Reinecke hatten die Kompositionen dieser Genres möglicherweise eine noch weitergehende, ganz private Bedeutung. So war seine eigene Kindheit überschattet von einer überaus strengen väterlichen Erziehung. In seinen Memoiren schildert er ein Vorkommnis aus der Kinderzeit, das den Einfluss dieser Erziehung auf sein Schaffen zeigt: Nachdem einmal eine Klaviersaite gerissen war, sei er aus Angst vor dem Vater in einen Tagtraum verfallen, in dem er "die ganze wunderbare Zauberwelt geschaut“, und weiter heißt es: „die Erinnerung daran hat mich mein Leben lang nicht verlassen." Die Märchenwelt erschien Reinecke als ein Reich der Sicherheit, in das er als Kind vor der väterlichen Strafe fliehen konnte. Im Leben des Erwachsenen wirkte dieses Sicherheitsgefühl nun vielleicht auf eine ganz andere, verborgene Weise weiter. Eine zweite, ebenfalls private Ursache für Reineckes Märchenkompositionen und Kinderlieder könnte zudem auch sein, dass er Kindern überhaupt zugewandt war: Aus drei Ehen hatte er insgesamt neun Kinder; die ersten beiden Ehefrauen waren früh verstorben.

    Der Erfolg einiger Werke veranlasste Reinecke zu mancherlei Weiterverwendung, wie in der vorliegenden Komposition von 1887. Hier fasste er einzelne Klavierstücke, Sololieder und Stücke aus Märchenopern zu zwölf Tonbildern zusammen und instrumentierte sie für Streichorchester. Reinecke erweist sich mit diesen Miniaturen als Meister der kleinen Form: so finden sich Dreiteiligkeit (ABA), Rondoform (ABACA) oder einfach Aneinanderreihung gegeneinander abgesetzter Teile in den kurzen Stücken von nur einer bis vier Minuten Dauer. Alle musikalischen Parameter sind hier so aufeinander abgestimmt, dass sie ein harmonisches Ganzes ergeben, und so im Ausdruckscharakter ihrem jeweiligen „Programm“ (Titel) entsprechen. Für die sieben ausgewählten Stücke (1, 2, 5, 7, 9, 10, 12) der zwölfteiligen Komposition wären ganz allgemein hervorzuheben: eine eingängige, fast immer dominante Melodie bzw. Melodik – zuweilen sind auch nur kurze Motive formgebend; überschaubare, symmetrisch angelegte Abschnitte, die wiederholt oder variierend wiederholt werden; die sehr differenzierte Dynamik und genaue Anweisungen zum Ausdruck. Bemerkenswert ist auch die Instrumentierung der in der Originalbesetzung doch sehr unterschiedlichen Stücke. Ein einfaches Kinderlied beispielsweise für ein Streichorchester zu instrumentieren, bedarf eines souveränen Umgangs mit den Möglichkeiten des Streichinstruments. Insgesamt zeigt die sorgfältige Ausarbeitung der Stücke, dass Reinecke sein Handwerk beherrschte, und mit dieser Komposition dem Zuhörer das reinste Vergnügen bereitet.



  • Niels Wilhelm Gade (1817–1890)
    Symphonie Nr. 8 in h–Moll op. 47 (komponiert zwischen 1869-1871)


    Anders als heute standen die Werke des dänischen Komponisten Niels W. Gade im 19. Jahrhundert regelmäßig auf den Konzertprogrammen. Die vierte seiner acht Symphonien soll sogar weltweit zu den am häufigsten gespielten gehört haben. Zu Gades Popularität hatte, wie bereits erwähnt, Felix Mendelssohn Bartholdy beigetragen, als er die erste Symphonie des 26-jährigen mit dem Gewandhausorchester in Leipzig im März 1843 zur Uraufführung brachte. Am Tag danach schrieb Mendelssohn an Gade nach Kopenhagen: „Durch den gestrigen Abend haben Sie sich das ganze Leipziger Publikum, das wirklich Musik liebt, zum dauernden Freund gemacht; keiner wird von jetzt an von Ihrem Namen und Ihrem Werke anders als mit der herzlichsten Hochachtung und Liebe sprechen; und jedes Ihrer künftigen Werke wird mit offnen Armen empfangen, sogleich mit der äussersten Sorgfalt einstudirt und freudig von allen Musikfreunden hier begrüsst werden.“ Diese Prophezeiung des von ihm hochverehrten Meisters veranlasste Gade im selben Jahr, unterstützt durch das Stipendium König Christian VIII., nach Leipzig zu reisen. In den fünf Jahren seines Aufenthalts in Leipzig avancierte er zum Kapellmeister des Gewandhausorchesters, einer europaweit geschätzten Stellung. Sie trug mit dazu bei, dass er, nachdem er 1848 Leipzig aus politischen Gründen Leipzig verlassen musste, in seiner Heimatstadt Kopenhagen als Musiker sofort den Anschluss fand. Fast 40 Jahre, bis zu seinem Tod, wirkte er als Komponist und als Leiter des Kopenhagener Musikvereins, ab 1861 als Organist und Hofkapellmeister. Außerdem hatte er 1865 gemeinsam mit seinem Schwiegervater, dem Komponisten Johann Peter Emilius Hartmann, das Kopenhagener Konservatorium gegründet.

    Im Kopenhagener Musikverein, wo in den Wintermonaten regelmäßige Konzertaufführungen stattfanden, dirigierte Gade am 7. Dezember 1871 auch die Uraufführung seiner achten Symphonie; gewidmet ist sie der Königlich Schwedischen Musikakademie zur Sekularfeier 1871. Wie seine erste steht auch die achte Symphonie in Moll, und wie die erste endet auch sie in Dur. William Behrend schrieb in seiner 1918 erschienenen Biografie Gades über das Werk: „In dieser Symphonie ist eine erneuerte jugendliche Kraft, eine Energie und Begeisterung, die einen nordischen Klang ergibt […]; er bricht aber fast so unmittelbar hervor wie in Gades Jugendsymphonie in c-moll.“ Gade hatte seine Komponistenlaufbahn mit Werken eines national geprägten Stils begonnen, nordische Literatur und Volkslieder waren dabei seine Inspirationsquellen. Nur mittelbar ist der „nordische Ton“ in der achten Symphonie nachweisbar, so etwa mit der Tonart h-Moll, dem Wechsel zwischen verschiedenen Varianten der Mollskala und besonderen melodischen Elementen. Vor allem aber ist der Überschwang, von dem Behrend spricht, deutlich spürbar.

    Allegro con fuoco, schnell und mit Feuer beginnt der erste der insgesamt vier Symphoniesätze, die in ihrer Proportion völlig ausgewogen sind. Überhaupt kann man bei Gade von einem klassisch-romantischen Kompositionsstil sprechen. Seine Vorbilder waren Mendelssohn und Schumann, denen er beispielsweise darin folgte, dass er die Satzfolge umstellte und die Mittelsätze vertauschte. Anstelle eines zweiten langsamen Satzes – wie es die Norm war – folgt hier also das Scherzo, erst danach ein Andantino als deutlicher Kontrast zum schnellen Finalsatz. Damit ändert sich die Spannungskurve der als Zyklus angelegten vier Sätze: Dem letzten Satz kommt auf diese Weise eine stärkere Schlusswirkung zu, und der Wechsel vom h-Moll zur strahlenden Variante H-Dur in der Coda verleiht dieser den Charakter einer Schlussapotheose. Auch tonartlich ist der Zusammenhang der Sätze gegeben. Im ersten und zweiten Satz wird die Grundtonart h-Moll durch größere Abschnitte in H-Dur abgelöst, die hier schon auf das Ende der Symphonie in Dur verweisen. Der dritte lyrische Satz steht in E-Dur, ebenfalls eng verwandt mit H-Dur als deren Subdominante.

    Nach wuchtigen Akkordschlägen setzt das Hauptthema des Kopfsatzes ein. Akkorde und profilierte melodisch-rhythmische Bausteine der ersten vier Takte des Themas bilden die Substanz aller folgenden Sätze – ein weiteres Zusammenhang stiftendes Moment der vier Symphoniesätze. Kernmotiv ist dabei eine aufsteigende Quarte, die sodann in kleineren Intervallschritten weiter nach oben geführt wird und wieder zum Ausgangston zurückspringt. Synkope und Punktierung dieser Tonfolgen als rhythmische Elemente setzen dabei starke Bewegungsimpulse. Die Wiederholung bzw. variierte Wiederholung dieser energiegeladenen viertaktigen Phrase entwickelt sich zu einem 16-taktigen Thema, das den Aufbruchcharakter dieses Satzes bestimmt. Die Quarte versteckt sich im huschenden Thema des zweiten Satzes und, zum Beispiel, auch in der Begleitung des Themas im dritten Satz. Hier sorgen die Punktierungen für einen ruhigen Fluss des liedhaften Themas. Prominent, fanfarenartig beginnen die Bläser schließlich mit der aufsteigenden Quarte den Finalsatz. Exzessiv werden die im Kopfsatz exponierten Bausteine weiter entwickelt und in der stark erweiterten Coda zu einem großartigen Ende der Symphonie gesteigert.