Philharmonie Schwäbisch Gmünd e.V.

Konzertarchiv

Anatoli Ljadow, Max Bruch, Joachim Raff
25. Mai 2019



  • Anatoli Ljadow (1855-1914)
    Acht russische Volksweisen op. 58

    Max Bruch (1838-1920)
    Schottische Phantasie für Violine und Orchester op. 46

    Joachim Raff (1822-1882)
    Symphonie Nr. 3 F-Dur „Im Walde“ op. 153

    Solist: Meng Han, Violine

    Leitung: Knud Jansen

Interview mit Knud Jansen zum Konzert



  • Vor dem Konzert ist nach dem Konzert
    Interview mit Knud Jansen, Künstlerischer Leiter der Philharmonie Schwäbisch Gmünd

    Wenn Knud Jansen, Dirigent der Philharmonie, den Taktstock zum Frühjahrskonzert 2019 hebt, hat er schon eine fünf Monate dauernde Probephase mit dem Orchester hinter sich. Auf dem Programm des Konzerts am 25. Mai stehen drei romantische Werke gar nicht oder nur wenig bekannter Komponisten: die „Fantasie: für die Violine mit Orchester und Harfe unter freier Benutzung schottischer Volksmelodien“ von Max Bruch, die Sinfonie Nr. 3 „Im Walde“ von Joachim Raff und „Acht Russische Volksweisen“ von Anatoli Ljadow. Diese überaus schöne und vielseitige Musik im Konzert hören zu können, ist aber nicht nur das Ergebnis intensiver Probenarbeit von Dirigent und Orchester, sondern auch das Ergebnis umfassender Vorarbeiten des Künstlerischen Leiters. Antworten auf Fragen dazu gibt Knud Jansen im Interview:

    *) - Herr Jansen, Ihrer Biografie nach hätten Sie hauptberuflich Musik- und Deutschlehrer, Sänger oder mit den Instrumenten Kontrabass, Schlagwerk, Cembalo und Orgel auch Orchestermusiker werden können. Warum sind Sie Dirigent geworden?

    K.J.: Als Dirigent sollte man ja idealerweise von all diesen und noch weiteren Gebieten soviel wie möglich verstehen. Ich habe erst spät realisiert, dass meine Neugier und Umtriebigkeit zu diesem Beruf führt, der so viel Wunderbares in sich vereint.

    - Sie sind seit 2013 Künstlerischer Leiter – so der offizielle Titel – der PSG. Welche Aufgaben sind damit verbunden?

    K.J.: Da sind zum Einen das Konzept und die Auswahl der Werke für den Konzertabend. Eine Ahnung von dieser Arbeit kann man bei den immer stattfindenden Konzerteinführungen bekommen. Aber es gehört auch dazu, die Möglichkeiten und Entwicklungen des Orchesters im Blick zu haben. Und dann kommen noch all die handwerklichen Dinge, also die Einstudierung mit dem Orchester, Probenpläne, Solisten und Aushilfen organisieren, Blick auf die Finanzen und vieles mehr. Und das Konzertdirigat als gestalterischer Höhepunkt natürlich.

    - In jedem Jahr gibt es zwei Konzerte der PSG. Zu hören sind dabei in der Regel jeweils drei Werke. Was ist für Sie bei der Wahl der Stücke ausschlaggebend: das Publikum, das Orchester …?

    K.J.: Das schöne und spannende ist, dass sich die Gewichtung immer wieder ändert und von unglaublich vielen Faktoren abhängt. Krönung einer Arbeitsphase soll aber immer das Konzerterlebnis und damit der Dialog mit dem Publikum sein.

    - In Ihren Konzerten waren immer Werke großer Komponisten zu hören: Beethoven, Schubert, Dvořák ... Beim diesjährigen Frühjahrskonzert steht neben der bekannteren „Schottischen Fantasie“ von Max Bruch ganz Unbekanntes auf dem Programm: Joachim Raffs Sinfonie „Im Walde“ und „Acht russische Volksweisen“ von Anatoli Ljadow. Wie kamen Sie auf die Werke dieser Komponisten?

    K.J.: Ich lese, suche, lerne und recherchiere ja auch wegen meiner weiteren Dirigate ständig, um meinen Horizont und mein Repertoire zu erweitern. Mit Blick auf die Remstal-Gartenschau stand das Thema "Natur" im Raum und jedes der genannten Werke steuert dazu seine Aspekte bei. Und Raff war als Komponist zu seiner Zeit eine berühmte und sehr bedeutende Persönlichkeit. Da schien es mir eine passende Gelegenheit, auf sein Schaffen hinzuweisen.

    - In fast jedem Konzert der PSG tritt ein Solist auf. Wie findet man überhaupt einen Solisten für ein bestimmtes Werk? International bekannte, so genannte Ausnahmekünstler, spielen in der Regel doch nur mit hochprofessionellen Orchestern und sind zudem sicher auch zu teuer.

    K.J.: Das stimmt. Manchmal kann man jedoch durch persönliche Kontakte oder die Aussicht auf besondere Werke mit diesen Künstlern ins Gespräch kommen. Ich bin aber auch sehr froh, dass wir in den letzten Spielzeiten vermehrt junge Talente gewinnen konnten, die am Anfang Ihrer Karriere stehen.

    - Eine Woche vor dem Hauptkonzert der PSG gibt es ein so genanntes Kinderkonzert. Wie sieht ein solches Konzert aus und was ist die Idee dabei?

    K.J.: Mir war es sehr wichtig, diese Kinderkonzert-Reihe ins Leben zu rufen und die Werte und Möglichkeiten des Kulturgutes "Orchesterkonzert" in Gmünd zu vermitteln. Vielleicht können diese Kinder durch ihr Mitsingen, Mitklatschen, Mitdenken und Mitfühlen in unseren Kinderkonzerten das Publikum von morgen werden und sich so eine neue Welt eröffnen.

    - Die Philharmonie ist als halbprofessionelles Orchester ein musikalisch und technisch anspruchsvolles Ensemble. Haben Sie Träume für die Zukunft des Orchesters?

    K.J.: Die Philharmonie als lebenslange Fortbildungsquelle für Gmünder Musikinteressierte – das fände ich toll. Auf möglichst hohem Niveau Jung und Alt, Orchester und Publikum, Profi- und Amateurmusiker zusammenbringen und voneinander lernen lassen. Mit Instrumentalunterricht speziell für das jeweilige Programm, Workshops mit Spezialisten, Podiumsdiskussionen mit Gästen, Publikumsdialogen – kurz: musikalische Erwachsenenbildung im Rahmen unserer Programme. Das wäre ein spannende Aufgabe, ein einzigartiges Modell in der Kulturlandschaft und sicher ein großer Gewinn für die ganze Stadt Schwäbisch Gmünd.

    *) Die Fragen stellte Ingeborg Havran

Komponisten und Werkbeschreibungen

  • Alle drei Werke des Frühjahrskonzerts 2019 gehören der Epoche der Romantik an. Sie erstreckte sich fast über das ganze 19. Jahrhundert und war eine Epoche widersprüchlicher Strebungen in Politik und Gesellschaft. Die Romantik war aber auch die Zeit der Bildung von Nationalstaaten, deren Identität sich nicht nur über die politische Einheit, sondern auch über die Rückbesinnung auf die eigene Kultur herstellte. So bildeten sich in den verschiedenen Ländern Europas Besonderheiten in Literatur und Musik heraus, von denen sich alle drei Komponisten des Programms inspirieren ließen.



  • Anatoli Ljadow (1855-1914)
    Russische Volksweisen für großes Orchester, op. 58


    In Russland begann man sich aus der Orientierung an westlicher Kultur zu lösen und entdeckte in Mythen, Märchen und insbesondere auch in der Volksmusik Eigenes. Sämtliche der Acht Russische[n] Volksweisen – uraufgeführt am 10. März 1905 in St. Petersburg – entstammen russischen Volksliedsammlungen und sind als Suite mit acht kurzen Sätzen angelegt. Jede dieser acht „Miniaturen“ beruht auf einem anderen Liedtypus, kategorisiert nach Themen der Lieder. Gemeinsam sind diesen jedoch musikalische Idiome russischer Volksmusik, von Ljadow in vielfältiger Weise aufgenommen: Fünftonmotive auf engstem Tonraum, einfach rhythmisiert und in kreisender Bewegung permanent wiederholt, Taktwechsel, Akzentverschiebungen im Duktus russischer Sprachmelodie.

    Als langsame Einleitung des Werks erklingt das Geistliche Lied (I), eine Bearbeitung des russisch-orthodoxen Kyrie (Herr, erbarme dich). Beim darauffolgenden Kalenderlied (II) handelt es sich um eine so genannte Koleda, ein slawisches Weihnachts- und Neujahrslied, zwischen Weihnachten und Dreikönigsabend von wandernden, maskierten Musikern vorgetragen. Die Bezeichnung Koleda stammt vom lateinischen calaendae, was hier die ausgehenden Tage des Jahres bezeichnet – daher Kalenderlied. Es folgt die Getragene Weise (III); als so genanntes Rubatolied ein Volksliedtypus, der polyphon gesetzt ist und von mehreren Stimmen ausgeführt wird. In freier Nachahmung eines Männerchors sind hier vier Celli solistisch eingesetzt. Das Scherzlied (IV) basiert auf einem Liedtypus lustigen oder satirischen Inhalts; das hier zitierte Lied beginnt mit der Liedzeile „Ich tanzte mit der Mücke“. Streichertriller ahmen das Mückensummen nach und untermalen damit die Melodie in Pikkoloflöte. Über die Vögel (V) ist inspiriert von einer epischheldenhaften Volksliedgattung, bei der ein Sänger über einer einfachen, ständig wiederholten Melodiefloskel eine endlose Kette gereimter Verse vorträgt. Den langsamen Satz in der Suite vertritt das Wiegenliedchen (VI). Das folgende Tanzlied (VII) stellt eine ländliche Tanzform dar. Pizzicati der Streicher imitieren die Balalaika, das russische Volksinstrument. Abschluss des Werks bildet das „Reigenlied“ (VIII), eine erzählerisch angelegte Liedgattung, bei der ein Reigentanz von bis zu hundert Sängern musikalisch begleitet wird.



  • Max Bruch (1838-1920)
    Fantasie: für die Violine mit Orchester und Harfe unter freier Benutzung schottischer Volksmelodien, Op. 46


    Die Geige, sagte Max Bruch einmal, müsse man wie eine Geliebte behandeln und glücklich machen. Ein Blick auf Bruchs gesamtes Werk – es enthält Kompositionen fast aller Werkgattungen – zeigt, dass er diesem Instrument mit allein drei Konzerten und sieben weiteren Einzelstücken einen besonderen Platz eingeräumt hat. Als Bruch im Winter 1879/80 mit der Komposition der Fantasie beginnt, ist er 41 Jahre alt und schon ein renommierter Musiker. Insbesondere hat er mit seinem 1. Violinkonzert in G-moll, op. 26 große Bekanntheit erlangt und bis heute gehört es zum Repertoire eines jeden Solisten. Dagegen sind fast alle anderen Werke Bruchs in Vergessenheit geraten. Erst seit den 1950er Jahren steht auch die Fantasie wieder vermehrt auf den Programmen großer Geiger.

    Die Idee zu dem viersätzigen Werk war Bruch während der Arbeit an einer Kantate nach Sir Walter Scotts Lady of the Lake (Die Lady vom See) gekommen. Mit diesem dramatischen Gedicht von 1810 hatte der schottische Nationaldichter Scott eine seit Mitte des 18. Jahrhunderts bestehende Schottlandeuphorie in Europa weiter befeuert. Und obwohl Bruch erst nach der Uraufführung der Fantasie (am 22. Februar 1881 in Liverpool) nach Schottland reiste und in unmittelbare Berührung mit schottischer Volksmusik kam, hatte er sich schon 1868 Zugang zu einer schottischen Volksliedsammlung verschafft. Jeweils vier populäre Volkslieder liegen den vier Sätzen der Fantasie zugrunde.

    Ihnen geht eine langsame Einleitung voraus, von Bruch selbst so umschrieben: „Ein Barde erinnert sich an alte herrliche Zeiten im Angesicht eines verfallenen schottischen Schlosses.“ In diesen Worten drückt sich deutlich ein Zug romantischer Weltsicht aus: Rückbesinnung auf ein goldenes Zeitalter, in dem die Welt noch eine harmonische Einheit war, eine Welt, die nun aber verschwunden ist. Melancholie, Gefühle des Verlusts – so könnte man den düsteren Charakter der Einleitung interpretieren: langsam, ernst, schwer, tiefe Blechbläser intonieren das Es-moll im Rhythmus eines Trauermarschs. Nach acht Takten hebt die Solovioline aus hoher Lage herabsteigend klagend an. Immer neu ansetzend steigert sie sich dramatisch, beruhigt sich wieder und leitet direkt zum ersten Satz im hellen Es-Dur, der Grundtonart der Fantasie, über.

    In diesem Adagio cantabile bearbeitet Bruch das schottische Volkslied Auld Rob Morris und setzt nun erstmals die Harfe ein. Die Kombination von Violine und Harfe ist typisch für schottische Volksmusik und lässt wiederum an vergangene Zeiten denken. Schon im Altertum und Mittelalter wurden Erzählungen mit der Harfe begleitet. Terzendoppelgriffe der Solovioline betonen die Innigkeit und leise Melancholie der Volksliedmelodie, welche im gesamten Werk immer wieder bruchstückhaft auftaucht und so die vier Sätze miteinander verklammert.

    Grundlage des zweiten Satzes (Allegro) ist das Lied vom staubigen Müller (The Dusty Miller). Das temperamentvolle Thema der Solovioline wird mit einem Bordunbass, deutlichen Anklängen an den Dudelsack, begleitet. Dieses Allegro mit einem virtuosen Solopart endet als Adagio, zitiert wird besagte Melodie aus dem ersten Satz. Weiter in freier Manier ausgesponnen führt sie, wieder direkt, zum dritten Satz (Andante sostenuto). Der einfachen sanglichen Melodie des Volkslieds I’am Down for Lack of Johnnie (Mir ist so leid um Jonny) ist ein auftaktiges Seufzermotiv im Orchester beigegeben, das die gedämpfte Gesamtatmosphäre des Satzes manifestiert.

    Im letzten Satz (Allegro guerriero) wird die Musik kriegerisch. Der Legende nach soll der mittelalterliche englische König Robert the Bruce mit dem Lied Scott’s Hua He seine Krieger zum Kampf in einer entscheidenden Schlacht aufgerufen haben. Dieses Lied ist eines der berühmtesten schottischen Lieder überhaupt, die Melodie zugleich eine der drei inoffiziellen schottischen Nationalhymnen. Aus dem einfachen strophischen Satz hat Bruch einen für die Violine höchst anspruchsvollen Variationensatz gemacht. Bevor am Ende nun das gesamte Orchester das patriotische Lied intoniert, scheint kurz, als Reminiszenz, nochmals die Volksliedmelodie des ersten Satzes auf.

    Widmungsträger Pablo Sarasate

    Widmungsträger der „Fantasie“ ist der spanische Stargeiger Pablo de Sarasate (1844-1908). Als Bruch ihn 1871 kennenlernt, ist er beeindruckt von dessen Können und widmet ihm 1877 sein zweites Violinkonzert. Es wird im selben Jahr mit Sarasate in London uraufgeführt. Warum Sarasate nicht auch der Solist bei der Premiere der „Schottischen Fantasie“ am 22. Februar 1881 in Liverpool ist, lässt sich nicht gesichert rekonstruieren. Jedenfalls hatte sich Bruchs Begeisterung für den Virtuosen schon bereits seit längerem abgekühlt, Sarasate hatte sich zusehends zum allürenhaften Künstler entwickelt. Solist in London war der ebenfalls berühmte deutsche Geiger Joseph Joachim (1831-1907). Wie schon bei der Komposition des 1. Violinkonzerts G-moll op. 26 (1865–1867) hatte sich Bruch fachmännisch von dem erfahrenen Geiger beraten lassen und auch bei der Einrichtung des Soloparts der Schottischen Fantasie hatte Joachim mitgewirkt. Bruch, zu dieser Zeit Direktor der Liverpool Philharmonic Society, dirigiert die Premiere selbst. In einem Brief an seinen Verleger Simrock kommentiert Bruch unverblümt Joachims Interpretation des Soloparts: „Joachim hat die Schottische Fantasie hier am 22. Februar sorglos, ohne Pietät, sehr nervös und mit ganz ungenügender Technik gespielt und sie sozusagen vernichtet. Dabei lobt er sie aber überall und erweist sich auch bei dieser Gelegenheit als der alte Feigling und der alte Heuchler.“ Dass es zu solch einem harten Urteil kommt, mag damit zusammenhängen, dass noch vor der Zusammenarbeit mit Joachim das Verhältnis der beiden Musiker nicht ganz ungetrübt war: Denn Joachim hatte vordem eher das Violinkonzert von Brahms (1879) in der Öffentlichkeit propagiert. Zu seinem großen Leidwesen stand Bruch stets im Schatten des übermächtigen Freundes Brahms. Zeitlebens musste er sich mit diesem vergleichen lassen. Joachim bekommt von diesem schmählichen Urteil nichts mit und nimmt die Fantasie in sein Repertoire auf. Bei weiteren Aufführungen in London und Breslau, nun mit Sarasate selbst, firmiert das Werk unter verschiedenen Titeln, unter anderem auch als „Konzert“, was den hohen Anspruch an den Solisten zeigt.



  • Joachim Raff (1822-1882):
    Im Walde Sinfonie Nr. 3 F-Dur für großes Orchester, op. 153


    In der Nachfolge Beethovens hatten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zwei Hauptströmungen der symphonischen Musik herausgebildet. Die „Konservativen“ orientierten sich am Formmodell der klassischen Symphonie (Mendelssohn, Brahms), die „Neudeutschen“ entwickelten auf der Grundlage einer poetischen Idee neue Gattungen, die Programmsymphonie und die Symphonische Dichtung (Berlioz, Liszt). Joachim Raff kann gewissermaßen als Grenzgänger zwischen beiden Strömungen bezeichnet werden. Er behält die Viersätzigkeit der klassischen Symphonie bei, legt der Sinfonie aber gleichzeitig eine programmatische Idee zugrunde: Eindrücke und Empfindungen eines Wanderers Im Walde. Raff lässt die Wanderung Am Tage beginnen, sie setzt sich In der Dämmerung fort und endet des Nachts. So ergibt sich seine Neugruppierung der vier Sätze in drei gleichgewichtige Abtheilungen.

    Raff hat zu seiner Sinfonie – 1870 in Weimar uraufgeführt – ein ausführliches Programm verfasst, in dem sich gänzlich Naturanschauung und Menschenbild der romantischen Epoche ausdrücken. Natur überhaupt und insbesondere der Wald galt den Romantikern als mystisch, als Sehnsuchtsort, in den der Mensch eintauchen und sich seinen innersten Gefühlen und Fantasien hingeben konnte. Auch ohne genauere Kenntnis von Raffs Programm vermitteln sich in der Musik Gestimmtheit des Wanderers und die naturhafte Atmosphäre. Denn, in freier Anlehnung an Beethovens Anweisung zu seiner 6. Symphonie, der „Pastorale“, ist die Sinfonie Im Walde „mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“, keine Programmmusik also. Sie steht, wie Beethovens Symphonie, in der Tonart F-Dur, die traditionell als Pastoraltonart mit dem Affektgehalt von Natürlichkeit und Hirtenmusik gilt. Bisweilen wurde Raffs 3. Sinfonie auch als „seine Pastorale“ bezeichnet.

    „Den Wanderer lockt es wie mit fernem leisen Grüßen zum Walde. Bald tritt er in den smaragdenen Dom…“ So beschreibt Raff den Beginn des ersten Satzes. Verhalten, aus leisen Streicherakkorden, Quartrufen des Horns, Einwürfen von Flöte und Oboe entwickelt sich das lebhafte rhythmisch bestimmte erste Thema. Einen klaren Gegensatz dazu bildet das lyrische zweite Thema, das die Violinen in schwelgerischem Auf und Ab exponieren. Fast unbemerkt eröffnet das Fagott noch ein drittes, rasches, fanfarenartiges Thema. Sukzessive wird es von den anderen Stimmen aufgenommen und immer zu einem Höhepunkt geführt. Danach tritt Beruhigung ein, die Durchführung beginnt. Verdichtung des Satzes, dynamische Steigerung zu einem Höhepunkt und erneutes Zurücksinken sind auch konstitutive Elemente der anschließenden Reprise und Coda.

    Der dreiteilige zweite Satz (Largo) in As-Dur steht ganz im Zeichen von Natur und Traum. Mit der neuen Tonart ändert sich die Atmosphäre, die sich deutlich vom vorherigen hellen F-Dur abhebt: Die Dämmerung hat eingesetzt, der Wanderer beginnt zu träumen. Bevor die ersten Violinen mit einem beseelend schönen Thema anheben, artikuliert sich die Klarinette im „freien Vortrag“ hoch über leisen Streicherakkorden. Klarinette und die anderen beiden „naturnahen“ Bläser Flöte und Horn – Lieblingsinstrument der Romantiker und Symbol für Wald und Natur – dominieren den durchsichtigen Satz.

    In zeitgenössischen Rezensionen wird immer wieder die besondere Fähigkeit Raffs zum Instrumentieren hervorgehoben. Auf seinem abenteuerlichen Weg vom einfachen Lehrer in der Schweiz zu einem der bekanntesten Komponisten seiner Zeit spielte Franz Liszt eine entscheidende Rolle. Dieser hatte den 28-jährigen als Privatsekretär nach Weimar geholt und mit der Instrumentierung einiger seiner Tondichtungen betraut. Hier muss Raff seine autodidaktisch erworbenen Kenntnisse auf diesem Gebiet angewandt und verfeinert haben

    Im dritten Satz, Tanz der Dryaden, wird entsprechend romantischer Vorstellung die Natur selbst lebendig. Dryaden sind Baumnymphen, deren geisterhaftes Treiben musikalisch zum Ausdruck kommt. Nach einem kurzen Trio folgt die Wiederholung des ersten Teils mit einem Zitat des lyrischen Themas aus dem vorigen Satz.

    Um dem ausladenden Finale leichter folgen zu können, hilft ein Blick auf Raffs Programm: Nachts. Stilles Weben der Nacht im Walde. Einzug und Auszug der wilden Jagd mit Frau Holle und Wotan. Anbruch des Tages. Mit dem lyrisch anmutenden Thema, Raff nennt es Waldweise, entsteht zunächst eine ruhige Atmosphäre. Sie wird abgelöst durch rasende Triolenketten, welche die Jagd eröffnen und zu einem zweiten Thema im Marschrhythmus führen. Durch vielfache Varianten der exponierten Themen, neue Melodieelemente, extreme Klangfarben, Chromatik, Tritoni, Triller u.a entsteht eine wilde “Jagdszenerie“. Am Ende verlischt diese mehr und mehr, der Tag bricht an: die Waldweise des Anfangs erklingt und endet, verbreitert, gleich einem Choral in den Hörnern.

    Das Programm des Komponisten
    Joachim Raff zu seiner Sinfonie Nr. 3


    Im Walde.
    Erste Abtheilung: Am Tage.

    Den Wanderer lockt es wie mit fernem leisen Grüßen zum Walde, dem er auf bekanntem Pfade zuschreitet. Bald tritt er in den smaragdenen Dom, den die ragenden Wipfel über ihm wölben; ihn befällt jener leise Schauer, welchen man beim Eintritt in unsere gotischen Tempel empfindet, deren Pfeilerbündel uns an die Gruppen schlanker Stämme gemahnen, unter denen wir im Walde dahin schreiten. Da raschelt’s im Laube, es ist das erschreckte Wild, das den Tritt des Jägers zu vernehmen glaubt. Der Wanderer schreitet ruhig weiter und gibt sich seinen Empfindungen hin; auf seine Lippen tritt eine einfache Weise, die nicht ohne jeden Zug von Melancholie ist, welche ihren Grund im Bewusstsein des Bruches zwischen Menschheit und Natur hat. Aber ist es nicht, als ob der singende Wanderer die Stimmen des Waldes erweckte? Ist es nicht, als ob die Wipfel und die Vögel, die in denselben sich wiegen, in sein Lied mit einstimmten, ja als ob die Natur selbst dem Sänger mit einem Gegengesang antwortete, der, verstummend, ein langes Echo erweckt, welches dem Dahinschreitenden wie ein Nachruf folgt. Weiter geht’s waldeinwärts. Da klettert das Eichhorn, dort hackt der Specht.

    a) Der Weg wird beschwerlicher, der Wald dichter; jetzt geht es aufwärts über einen Weg, der durch bloßliegende Baumwurzeln fast ungangbar gemacht wird; nun noch eine Strecke Durcharbeitens durch Dickicht, da langt der Wanderer oben in einem prachtvollen Schlage von hohen kräftigen Stämmen an. Es weitet sich wieder die Brust und die ersten frohen Stimmungen kehren zurück.

    oder

    b) Mannigfache Laute der hier hausenden Tierwelt schlagen an das Ohr des Wanderers, der auf wenig begangenem und beschwerlichen Pfade einen dichtbewachsenen Bezirk durchstreift, bis er endlich in einen lichten Teil des Waldes gelangt, wo sich die Brust wieder weitet und die früheren Stimmungen zurückkehren. Inzwischen kommt der Wanderer an eine andere Stelle des Waldes. Da… horch! Das ist fliehendes Wild, das ist wahrhaftig der Tritt der Jäger. Von da sieht man deutlich die Flucht der verfolgten Tiere… jetzt knallen die Schüsse… endlich ist die Blutarbeit getan, die Jäger eilen herbei, man hört ihre lustigen Fanfaren… Der Wanderer wendet sich ab von diesem Bilde; sein Blick fällt auf eine andere Seite des Waldes, dessen hohe Kronen friedlich auf das Treiben der Menschen herabschauen. Hier vernimmt der Wanderer nochmals jene Antistrophe mit ihrem langen Nachhall an dessen Schlusse die Dissonanz in einem mächtig anschwellenden Akkorde untergeht.

    Zweite Abtheilung: In der Dämmerung.
    A. Träumerei

    Der Wanderer ruht von seinem Gange aus. In der geheimnisvollen Stille, die ihn umgibt, nahen ihm holde Erinnerungen. Er glaubt die Stimme der Geliebten zu hören, und sein Herz antwortet dieser Stimme. Aber den Seufzern seiner Sehnsucht erwidert teilnehmend, beschwichtigend die Stimme der Natur. Das Herz wird ruhiger, der Schlummer naht den müden Sinnen. Unmerklich verirren sich die Gedanken: der Traum beginnt. In diesem aber zeigt sich der entfesselten Phantasie ein unheimlicher, schrecklicher Gegenstand. Der angstgequälte Wanderer erwacht plötzlich… Der Traum hat ihn glücklicherweise getäuscht… es ist nichts in seiner Nähe, was ihn beunruhigen könnte; nur das leise Flüstern der vom Abendhauch bewegten Wipfel ist zu hören. Der Wanderer atmet leise auf. Die Beklommenheit weicht vom Herzen, dessen Stimme sich wieder vernehmen lässt. Stiller wird’s nun in der Natur, auch die Wipfel schweigen. Mit den letzten Gedanken bei der fernen Geliebten, ein Gebet für sie auf den Lippen, entschlummert der Wanderer.

    B. Tanz der Dryaden
    Im Zwielicht huschen jene zarten Wesen, womit die Phantasie den Wald bevölkert, hervor und umgaukeln den Schläfer. Jetzt umschwebt ihn eine einzelne, dann mehrere, dann ein ganzer Chor. Jetzt wiegen sie sich hoch in den Wipfeln, aus denen ihr Gesang herniederklingt, dann beginnen sie abermals den Reigen und necken den schlummernden Wanderer, dessen Geheimnis sie erlauscht haben, worauf sie verschwinden.

    Dritte Abtheilung: Nachts
    Hat der Tondichter bis hierher den Wald immer noch in Beziehung zum Menschen dargestellt, so lässt er ihn nunmehr als etwas elementarisch Selbstständiges erscheinen und symbolisiert ihn durch eine Melodie, die wir „Waldweise“ nennen wollen. – Das stille Weben der Nacht im Walde beginnt, allein wird es bald unterbrochen durch die mahnenden Hornrufe des treuen Eckart, der das Nahen der wilden Jagd ankündet, die denn auch alsbald ihren Einzug hält. Pferdegetrappel, Peitschenknall, Rüdengebell, wilder Gesang, Geschrei, Flüche, Hohngelächter, dröhnende Signale bezeichnen den Zug der Jagd. Unter den unheimlichen Klängen eines Gespensterreigens erscheint das Geleite der Frau Holle; dann naht diese selbst. Wehklagend verwünscht das unselig wonnige Weib ihr Los, welches sie verdammt, an Wotans Seite ewig dem nächtlichen Zuge zu folgen. Wotan selbst, der Ahasver des Waldes, schließt sich erst dieser Klänge an, dann aber erhebt er sich grollend und zieht in finsterer Majestät dem Gefolge vorauf, welches mit wildem Jubel den gefallenen Gott begleitet. So ziehen sie waldeinwärts. Das Getöse verhallt allmählich. Einen Augenblick scheint die Natur aufzuatmen von den rings verbreiteten Schrecken. Allein nun hört man geraume Zeit das unheimliche Treiben der Jagd aus der Ferne. Schon glaubt man, dass sie den Wald gänzlich verlassen habe, als sie zurückkehrt, aber gleichsam in überstürzter Hast, vom Grauen des jungen Tages zur Eile angespornt. Endlich hat der Gespensterzug den Wald verlassen. Da erhebt sich mild und warm die Stimme der wieder beruhigten Natur, die Waldweise. Der Morgenwind und die Vögel erwachen und stimmen mit ein. Mächtiger stets rauscht die Weise durch die bewegten Wipfel. Auch der erwachte Wanderer erhebt seine Stimme und schließt sich dem Hymnus der Natur an.

Meng Han, Violine



  • Meng Han ist ein junger, hochbegabter Violinvirtuose aus China. Er wurde 1996 in Jinan geboren und erhielt fünfjährig seinen ersten Geigenunterricht in Kunming. Im Alter von nur zehn Jahren wurde er ans „Central Conservatory of Music (CCOM)“ in Beijing aufgenommen. Zwei Jahre lang studierte er dort bei Prof. Zhaoyang Lin. Ab dem Jahre 2008 studierte er dann an der „CCOM Middle School“ bei Prof. Weidong Tong. Nach der Ausbildung an der „CCOM Middle School“ folgten drei Semester an der „CCOM“ im Bachelor-Studiengang. Im Jahre 2016 kam er dann nach Stuttgart und nahm sein weiteres Aufbaustudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart bei Prof. Christine Busch auf.

    Während seines Studiums in China war er Konzertmeister bei mehreren Jugendorchestern, so dem „CCOM Junior Orchestra“, dem „China Youth Symphony Orchestra“, dem “Four Seasons“ Chamber Ensemble“. Auch wirkte er 2012 in Beijing im Kammerorchester des „Menuhin Internationaler Jugendlichen Violinwettbewerbs“ mit. Beim “Roter Mai“ Chor-Wettbewerb an der CCOM Middle School gewann er 2012 die Auszeichnung “Bester Dirigent” sowie beim “Die Goldenglocke“-Wettbewerb für Kammermusik 2013 eine Auszeichnung.

    Eine internationale Auszeichnung erhielt er dann im Jahre 2016 mit dem 1. Preis beim „Internationalen Kammermusik Wettbewerb“ in Hong Kong.

    Im Jahr 2017 wurde er in Europa als Barockgeiger für die Matthäuspassion - Tournee mit dem Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe engagiert. Außerdem spielt er regelmäßig im Barockorchester „Stiftsbarock“ z.B. Zyklus „Bach vokal“ mit. Beim Streicherfestival der Stuttgarter Musikhochschule spielte er im Mai 2018 als Solist und Kammermusiker mehrere Werke im Konzertsaal der Hochschule. Im vergangenen Oktober (2018) war er Preisträger beim Musikpreis des Lions Clubs Stuttgart-Schlossgarten.